11. Mai 2018

das Abschiedsfoto schon im Dunkeln

Während ich dies schreibe, sitze ich bereits auf dem Flughafen und warte auf meinen Flieger. Die letzten Tage vergingen noch schneller als sonst.

Mittwoch noch kurzfristig zu einer Minifortbildung für die Übersetzerinnen ‘verdonnert’, Donnerstag nur einen halben Tag gearbeitet, aber trotzdem (gefühlt) genau so viele Unfälle gehabt, danach ‘home visit’ (Hausbesuche in den Slums; muss ich später noch mal etwas drüber schreiben), abends waren statt des üblichen Abschiedsessens  unsere Langzeit’chefin’ Yvonne, George (unser Manager) mit seiner Frau (Deutschdozentin am hiesigen Goetheinstitut) und unsere ‘COs’ (Clinical officers) eingeladen; trotzdem unterhaltsam geworden. COs haben eine begrenzte medizinische Ausbildung (z.B. für HIV- oder Tuberkulose-Therapie) und sind auf ihrem Gebiet oft fitter als wir.

Heute zum Abschluss nochmal das volle Programm: einige Kinder mit Knochenbrüchen, eine junge Frau, der einen Nachbarschaftsstreit schlichtend die linke Augenbraue weggebissen worden war, ein Abszess auf der Wange, ein großer Brustdrüsenabszess bei einer stillenden Mutter, zum Schluss ein 4-jähriger Junge, der von einem wilden Motorbike angefahren einen kompletten, verschobenen Unterschenkelbruch erlitten hatte.
Immer wieder spektakuläre Ereignisse, wie die alte Frau von ‘upcountry’, auswärts schon mehrfach vor-/anbehandelt, Vorgeschichte aber nicht eindeutig zu eruieren. Die ganze Hand in einem schmutzigen, übelriechenden  Verband eingepackt; bei dem Versuch einer Wundinspektion plötzlich zwei Blutfontainen irgendwo aus der Hohlhand weit in den Raum spritzend; das Ganze unter dem lauten Wehklagen der Patientin und inmitten fünf weiterer im Raum behandelter oder wartender Patienten Nach dem Motto ‘mit Druck bekommt man jede Blutung zum Stehen’ haben wir mit mindestens 20 elastischen Binden die Patienten zumindest transportfähig bekommen; auch hier weiß man nicht, ob sie im Krankenhaus angekommen ist.

Etwa 80% des Krankheitenspektrums machen hier wie auch in Kalkutta und Chittagong – wie übrigens auch zu Hause – die folgenden Beschwerden aus: ‘lower backpain’ (Kreuzschmerz), ‘chest burn’ (Herzbrennen) und ‘belly pain’ (Magenschmerzen), ‘headache’ und ‘dizzyness’ (Kopfschmerzen/Benommenheit).
Wir wissen/spüren, dass viele dieser Beschwerden psychosomatisch bedingt sind, aber es gibt hier für unsere Patienten keine erreichbaren bzw. bezahlbaren Therapeuten. Die dafür verursachenden Lebensumstände (Wohnbedingungen, Geldmangel, Alkoholismus, gewalttätige (Ehe)männer, Unfallfolgen) können wir nicht ändern. Bei unserer sprachlichen Beschränktheit können wir nur auf das Einfühlungsvermögen unserer Übersetzerinnen setzen, die das meiner Erfahrung nach hervorragend machen! Und die sich dazu noch alle 6 Wochen auf eine/n neuen ‘german doctor’ mit unterschiedlichen (bei mir mangelhaften) Englischkenntnissen ein-/umstellen müssen.

Bei mir sind von den “Bagatell”-Patienten nur wenige angekommen, was an meiner chirurgischen Ausrichtung liegt. Aber auch bei meinen chirurgischen Patienten habe ich immer wieder durch die bei allen Patienten routinemäßig durchgeführten Tests HIV/AIDS sowie Tuberkulose neu festgestellt. Es ist schon sehr hilfreich, dass man innerhalb der Ambulanz immer unmittelbar eine Kollegin/einen Kollegen oder die erfahrene Langzeitärztin dazuholen kann (“guck’ mal gerade drauf, fällt Dir dazu was ein?”). Am Mittagstisch oder zu Hause tauscht man sich natürlich über die interessanten, schwierigen oder belastenden Verläufe aus.


14-jähriges Mädchen kam vor Tagen missmutig/hoffnungslos(?) dreinschauend mit Mutter hereingeschlurft. Vor einigen Monaten gestürzt, seitdem Schmerzen im linken Bein. Auch nach mehreren Behandlungen nur kurzfristig besser geworden, jetzt Knieschmerzen, vorher Hüftschmerzen. Beinlängenverkürzung links 3 cm mit Muskelschwund und Fußheberlähmung (deshalb hinkend), röntgenologisch nichts Auffälliges gesehen. Ratlosigkeit (nicht nur bei mir).
Dass man Bluthochdruck und Zuckerkrankheit – hier wie auch schon in Bengalen – letztlich nicht heilen kann, weiß ich. Aber diese Patientin – wie auch die vielen chronischen, z.T jahrelangen, riesigen Beingeschwüre – muss ich (unbefriedigend) meinen Nachfolgerinnen hinterlassen in der Hoffnung, dass sie weiterkommen als ich.