28. Dez. 2015

Wie gehe ich eigentlich mit den Patienten um? Wie mit dem Elend, dem ich hier jeden Tag begegne? Kann ich eigentlich mit Patienten eine Beziehung aufbauen, deren Sprache und Kultur ich nicht verstehe?

Sprechstunde: jede/r von uns sitzt – alleine oder zu zweit – zusammen mit seiner Übersetzerin, in einer Kabine/Hütte/Raum, oben meist offen, der Eingang mit einem Tuch notdürftig verhängt, an einem kleinen wackeligen Tischchen, auf Plastikstühlen. (Wie war das noch mit Schweigepflicht, Persönlichkeitssphäre usw.?)

Der Patient, wenn er/sie überhaupt einen Stempel auf dem Unterarm ergattert hat und registriert wurde, wird hereingerufen, setzt sich auf einen Plastikhocker, gibt seine gelbe Patientenakte und evtl. weitere auswärtige Befunde ab; wir sehen in der Karte nach letzten Befunden/Aufträgen. Die Übersetzerin fragt nach dem Grund für die heutige Konsultation.

Typische Gründe neben den Anschlussverordnungen von Diabetes, Hypertonie, Epilepsie sind:

– c + c + f (caugh + cold + fever) Husten, Erkältung mit und ohne Fieber, wobei ein behandelter Husten über 14 Tage grundsätzlich verdächtig auf eine Tuberkulose ist,

– belly pain = Bauchschmerzen, kann aber schließlich auch ganz andere Lokalisationen habe,

– back pain = Rückenschmerzen, kann auch hier andere Lokalisationen haben,

– dizziness = Schwindel  und weakness = Schwäche.

Die Maximalform von Beschwerden ist “whole body pain”. Hinter wievielen Beschwerden sich psychosomatische Diagnosen verbergen, kann in einer Kultur, in der solche Krankheiten nicht bekannt oder nicht akzeptiert sind, nur geschätzt werden; die Zahl ist wahrscheinlich sehr hoch.

Das Gespräch findet natürlich zwischen dem Patienten und der Übersetzerin statt, von dem ich nicht mehr als Mimik (in der Seitenansicht) und Tonfall erfassen kann. Ob das, was meine Übersetzerin mir dann meist gekürzt und in englisch wiedergibt, dem Original entspricht, hängt von deren Qualität (und Stimmung, usw.) ab. Die meisten Patienten bleiben auch im weiteren Gespräch im Blickkontakt mit der Übersetzerin, schließlich versteht und spricht sie ja ihre Sprache. Diese ist meist langjährig in dieser Sprechstundenform, im Umgang mit den Patienten und im lokalen Krankheitsspektrum erfahren, manchmal erfahrener als die alle 6 Wochen wechselnden german doctors. Ob sie dem Patienten das weitergibt, was ich gesagt habe, kann ich wiederum nicht verstehen.

Grundsätzlich gilt ja: eine Beziehung entsteht in den ersten zehn Sekunden einer Begegnung.

Nach 4 Wochen sieht man “seine” ersten Patienten wieder, weil der Zeitraum, für den Patienten ihre Medikamente mitbekommen, vier Wochen beträgt. Dabei ist die Liste der bevorrateten Medikamente allein schon aus Kostengründen sehr beschränkt, deckt aber die häufigsten Krankheiten ab.
Hier und bei Patienten, um die man sich diagnostisch und therapeutisch intensiver bemüht hat, habe ich das Gefühl – ich kann mich täuschen -, dass eine Beziehung entstanden ist. Wie muss sich das für den Patienten anfühlen, wenn spätestens beim dritten Besuch ein anderer Doktor da sitzt, während die Übersetzerinnen über lange Zeit dieselben bleiben?

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